Ein Fußgänger, der sich in einer "faktischen" Fußgängerzone bewegt, muss bei einer Richtungsänderung oder einem Schritt zur Seite nicht damit rechnen, dass ihn Fahrradfahrer verbotswidrig radelnd von hinten kommend mit zu geringem Seitenabstand überholen.

Der Sachverhalt

Ein Fußgänger ging auf einem Theatervorplatz, in dessen Bereich mit Zeichen 250 ein Verbot für Fahrzeuge aller Art verhängt worden war und Fahrräder nur geschoben werden durften. Ein Ehepaar fuhr mit ihren Fahrrädern an dem Fußgänger von hinten vorbei, als dieser, um einer Frau mit Kinderwagen auszuweichen, einen Schritt von einer Terrassenstufe nach unten machte.

Der Fußgänger kollidierte, nachdem der Ehemann bereits vorbeigefahren ist, mit der von hinten kommenden Ehefrau. Diese stürzte und verletzte sich. Es kam zur Klage.

Aus dem Urteil des Oberlandesgerichts München (Az. 10 U 2020/13)

Immer wieder stellt man als Fußgänger fest, dass man von Fahrradfahrern "geschnitten" oder fast umgefahren wird, weil Radfahrer mit einem geringen Abstand an einem vorbeifahren oder mit überhöhten Geschwindigkeiten in Fußgängerzonen oder auf Gehwegen unterwegs sind.

Im obigen Sachverhalt entschied das Gericht zugunsten des Fußgängers und sah die Alleinhaftung bei der Radfahrerin. "Der Beklagte ist in einer "faktischen" Fußgängerzone gegangen und muss, wenn er einen Schritt zur Seite geht und selbst wenn er seine Richtung ändern würde, nicht damit rechnen, dass ihn Fahrradfahrer verbotswidrig radelnd von hinten kommend mit zu geringem Seitenabstand - wofür der Anscheinsbeweis spricht - überholen".

Kombinierte Fuß- und Radwege (Zeichen 240 und 241)

Auf einem Sonderweg, der eine Mischung des Radverkehrs mit den Fußgängern auf einer gemeinsamen Verkehrsfläche bewirkt, haben Radfahrer auf Fußgänger Rücksicht zu nehmen (vgl. OLG Oldenburg NJW-RR 2004, 890; OLG Köln VersR 2002, 1040; Hentschel/König/Dauer-König, Straßenverkehrsrecht, 42. Auflage 2013, § 41 StVO Rz. 248 d f.). Das kommt auch darin zum Ausdruck, dass kombinierte Fuß- und Radwege, die eine Benutzungspflicht für Radfahrer zur Folge haben, nur dann angelegt werden sollen, wenn dies nach den Belangen der Fußgänger, insbesondere der älteren Verkehrsteilnehmer und der Kinder, im Hinblick auf die Verkehrssicherheit für vertretbar erscheint (vgl. Verwaltungsvorschrift zu den Zeichen 240 und 241, gemeinsamer bzw. getrennter Fuß- und Gehweg).

Radfahrer haben demnach die Belange der Fußgänger auf solchen Wegen besonders zu berücksichtigen. Selbstverständlich haben auch Fußgänger auf Radfahrer Rücksicht zu nehmen und diesen die Möglichkeit zum Passieren zu geben; den Radfahrer treffen aber in erhöhtem Maße Sorgfaltspflichten. Insbesondere bei einer unklaren Verkehrslage muss ggfs. per Blickkontakt eine Verständigung mit dem Fußgänger gesucht werden; soweit erforderlich, muss Schrittgeschwindigkeit gefahren werden, damit sofortiges Anhalten möglich ist. Auf betagte oder unaufmerksame Fußgänger muss der Radfahrer besondere Rücksicht nehmen; mit Unaufmerksamkeiten oder Schreckreaktionen muss er rechnen.

Gehweg für Radfahrer freigegeben (Zeichen 239)

Diese Maßstäbe gelten, wie das OLG Oldenburg in seiner Entscheidung vom 09.03.2004 (NJW-RR 2004, 890) überzeugend ausgeführt hat, erst recht auf Gehwegen, die durch ein Zusatzschild für Radfahrer freigegeben sind. Das Zusatzschild "Radfahrer frei" eröffnet dem Radverkehr nur ein Benutzungsrecht auf dem Gehweg. Den Belangen der Fußgänger kommt in diesem Fall ein besonderes Gewicht zu; insbesondere darf der Radverkehr nur mit Schrittgeschwindigkeit fahren (Verwaltungsvorschrift zu Zeichen 239 Fußgänger).

"Faktische" Fußgängerzone (Zeichen 250)

In einem Bereich, in dem Fußgänger nur mit "Fahrradschiebern" rechnen müssen, haben die Belange von Fußgängern überragendes Gewicht. Weicht hier ein Fußgänger einem anderen aus, muss ein sein Fahrrad schiebender Verkehrsteilnehmer mit Unaufmerksamkeiten rechnen. Dies gilt auch für den Fall, dass der Fußgänger die breitere Treppenstufe einer gestuften "faktischen" Fußgängerzone eine Stufe hinabsteigt, denn an der Natur einer Richtungskorrektur ändert sich nichts.

Bei einer unklaren Verkehrslage muss ggfs. mit Blickkontakt Verständigung gesucht werden. Hierbei fällt im vorliegenden Fall insbesondere ins Gewicht, dass sich die Radfahrerin dem Fußgänger von hinten genähert hat, also durchaus wahrnehmen konnte, dass sie der Fußgänger nicht herankommen sieht. Damit war der Radfahrerin - anders als dem Fußgänger - die Gefahrenlage durchaus bewusst.

Darüber hinaus lag konkret nicht nur eine "gefahrenneutrale" Situation vor, bei der die Radfahrerin darauf vertrauen durfte, ohne Klingelzeichen mit zu geringem Sicherheitsabstand am erkennbar nichts ahnenden Fußgänger vorbeizufahren (vgl. BGH MDR 2009, 203, 204). Vielmehr hatte sich das abstrakte Gefährdungspotential, das bei nur optisch voneinander getrennten Verkehrsflächen im innerstädtischen Begegnungsverkehr angenommen wird (vgl. BGH MDR 2009, 203, 204; OLG Oldenburg NJW-RR 2004, 890, 891; OLG Köln VersR 2002, 1040; Hentschel/König/Dauer-König, a.a.O., § 41 StVO, Rz. 248 c) bereits dadurch zu einer kritischen Situation verdichtet, dass objektiv das Befahren des Theatervorplatzes mit Fahrrädern verboten war. In dieser kritischen Situation, in der die Radfahrerin noch nicht einmal geklingelt hat - was nicht genügt hätte -, wäre sie gehalten gewesen abzusteigen und ihr Fahrrad entsprechend Zeichen 250 zu schieben.

In der Fußgängerzone muss ein Fußgänger nicht mit radfahrenden Verkehrsteilnehmern rechnen

Abzustellen ist auf die Sicht des sich berechtigt in der Fußgängerzone bewegenden Fußgängers. Dieser muss nicht mit radfahrenden Verkehrsteilnehmern rechnen. Der Fußgänger war auch nicht gehalten, nachdem der erste Radfahrer vorbeigefahren ist, sich bei einer Richtungsänderung oder einem Schritt zur Seite vorher nach hinten umzusehen. Die gesteigerten Sorgfaltspflichten treffen den sich von hinten Nähernden und Überholenden, der das Gesamtgeschehen auch von hinten überblicken kann. Überholt dann die Geschädigte - verbotswidrig radfahrend -, so hat sie - erst recht - den erforderlichen Sicherheitsabstand (Hentschel/König/Dauer-König, Straßenverkehrsrecht, 42. Auflage 2013, § 5 StVO Rz. 54 ff) einzuhalten.

Radfahrer müssen mit Schreckreaktionen und Unachtsamkeiten des Fußgängers rechnen

Hierbei ist zu berücksichtigen, dass § 5 Abs. 4 S. 2 StVO den Schutz der überholten Fußgänger besonders betont. Mit Schreckreaktionen und Unachtsamkeiten des Fußgängers muss der Überholende bereits beim berechtigten Befahren eines Bereichs rechnen (vgl. OLG Koblenz VRS 42, 29; OLG Braunschweig VRS 4, 294; Hentschel/König/Dauer-König, § 5 StVO 55 a.E.); dies gilt umso mehr beim verbotswidrigen Verhalten der Geschädigten.

Gericht:
Oberlandesgericht München, Urteil vom 04.10.2013 - 10 U 2020/13

OLG München
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