Familiennachzug: Bei der Berechnung des Lebensunterhalts eines Ausländers, der nach Deutschland einreisen will, sind vom Familieneinkommen nicht die Erwerbstätigenfreibeträge nach § 30 SGB II abzuziehen.

Mit dieser Begründung hat das Verwaltungsgericht Berlin erstmals im Hinblick auf die neueste Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs einer Klage zweier türkischer Kinder stattgegeben, denen das Auswärtige Amt ein Visum unter Berufung auf nicht ausreichende finanzielle Mittel verweigert hatte.

Sachverhalt

Nach dem Aufenthaltsgesetz setzt die Erteilung eines Aufenthaltstitels für Ausländer voraus, dass der Lebensunterhalt gesichert ist. Dies ist der Fall, wenn der Ausländer ihn einschließlich ausreichenden Krankenversicherungsschutzes ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel bestreiten kann. Von dem bei der Berech-nung zugrunde zu legenden Einkommen sind nach der bisherigen Rechtsprechung sogenannte Freibeträge (§§ 11 Abs. 2, 30 SGB II) abzuziehen. Das Bundesverwaltungsgericht hat diese Praxis bislang mit dem Argument bestätigt, nur auf diese Weise werde dem Willen des Gesetzgebers Rechnung getragen, keinen Ausländer nach Deutschland einreisen zu lassen, der sogleich Anspruch auf ergänzende Sozialhilfeleistungen habe.

Entscheidung

Die 15. Kammer des Verwaltungsgerichts hält diese Praxis vor dem Hintergrund einer neueren Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs ("Chakroun") zur sogenannten Familiennachzugsrichtlinie nicht mehr für zulässig. Der EuGH habe den Begriff der "Sozialhilfeleistung" als eine Hilfe definiert, die gewährt werde, um einen Mangel an ausreichenden festen und regelmäßigen Einkünften zur Bestreitung des notwendigen Lebensunterhalts auszugleichen. Daraus ergibt sich nach Auffassung der 15. Kammer, dass die Freibeträge bei Erwerbstätigkeit nicht mehr abgezogen werden dürfen, weil diese nicht zur Deckung des Lebensunterhalts dienten, sondern einen Arbeitsanreiz darstellten. Im konkreten Fall durfte den Klägern daher der rechnerische Fehlbetrag von 87,39 Euro nicht entgegen gehalten werden.

Gegen das Urteil wurde bereits Berufung bei dem Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg eingelegt.

Gericht:
Verwaltungsgericht Berlin, Urteil der 15. Kammer vom 17. Juni 2010 - VG 15 K 239.09 V

PM des Verwaltungsgericht Berlin
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