Ein Opfer von sexuellem Missbrauch kann auch heute noch Ansprüche auf Schmerzensgeld erfolgreich geltend machen, obwohl die Taten bereits Jahrzehnte zurückliegen. Der BGH hat das Urteil des LG Osnabrück bestätigt.

Der Sachverhalt

Der 1976 geborene Kläger hat wegen Kindesmissbrauchs erfolgreich ein Schmerzensgeld in Höhe von 7.500,- € gegen den heute 75-jährigen Beklagten geltend gemacht. Der Beklagte, der der Nachbar der klägerischen Großeltern war, missbrauchte den minderjährigen Kläger im Frühjahr 1988 und Anfang 1990. Siehe auch unsere Meldung "Schmerzensgeld wegen sexuellen Missbrauchs - Verjährungsfrist" aus dem Jahre 2011.

Die Entscheidung

Obwohl die zivilrechtliche Klage erst 2008 erhoben worden ist, ist der Schmerzensgeldanspruch noch nicht verjährt gewesen, wie das Landgericht Osnabrück erstinstanzlich ausgeführt hat. Diese Rechtsansicht, der sich in dem vom Beklagten angestrengten Berufungsverfahren das Oberlandesgericht Oldenburg angeschlossen hatte, hat jetzt auch der Bundesgerichtshof in Karlsruhe bestätigt, Urteil vom 04.12.2012, Aktenzeichen VI ZR 217/11.

Schadensersatzansprüche verjähren zwar 3 Jahre nach Kenntnis des Verletzten von dem Schaden. Bei minderjährigen Opfern, deren gesetzlichen Vertretern die Vorfälle nicht bekannt sind, beginnt die Frist für die Kenntnis frühestens mit Eintritt der Volljährigkeit des Opfers (so die bis 2002 geltende Rechtslage). Die für den Beginn der Verjährung erforderliche Kenntnis des Geschädigten kann aber fehlen, solange dieser infolge einer durch die Verletzung erlittenen retrograden Amnesie keine Erinnerung an das Geschehen hat.

Kläger hatte die Vorfälle komplett verdrängt

Der Kläger hat durch ein medizinisches Sachverständigengutachten beweisen können, dass er aufgrund einer schweren posttraumatischen Belastungsstörung direkt nach den Vorfällen (und damit auch bei Eintritt seiner Volljährigkeit) das Geschehen komplett verdrängt hatte. Erst als die Schwester dem Kläger im April 2005 berichtete, dass sie auch von dem Beklagten sexuell missbraucht worden sei, habe der Kläger wieder Kenntnis von den Ereignissen erlangt. Erst 2005 begann also die dreijährige, kenntnisabhängige Verjährung zu laufen, so dass bei Erhebung der Klage im Jahr 2008 die Verjährungsfrist noch nicht abgelaufen war.

Gericht:
Landgericht Osnabrück, Urteil vom 29.12.2010 - 12 O 2381/10

LG Osnabrück, PM Nr. 5/13
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Entscheidungshinweis:

Bundesgerichtshof, Urteil vom 04.12.2012 - VI ZR 217/11

Die für den Beginn der Verjährung erforderliche Kenntnis des Geschädigten kann fehlen, wenn dieser infolge einer durch die Verletzung erlittenen retrograden Amnesie keine Erinnerung an das Geschehen hat (Anschluss Senatsurteil vom 22. Juni 1993 - VI ZR 190/92, VersR 1993, 1121).