Wer eine Regionalbahn statt durch die Waggontür über ein Abteilfenster verlässt, tut dies auf eigene Gefahr. Es ist nicht Aufgabe eines Zugschaffners, einen Passagier permanent zu bewachen und so an der gefährlichen Kletterei zu hindern.

Leitsatz

Klettert ein Fahrgast aus dem Fenster eines anfahrenden Zuges und kommt dabei zu Schaden, so stehen ihm regelmäßig wegen seines überwiegenden Mitverschuldens Schadensersatzansprüche gegen den Bahnbetreiber nicht zu.

Dies gilt auch dann, wenn sich nicht mehr klären lässt, ob er von diesem oder einem nachfolgenden Zug verletzt wurde, selbst wenn letzterer aufgrund eines Fehlverhaltens des Zugbegleiters nicht mehr angehalten werden konnte.

Der Sachverhalt

Ein alkoholisierter Fahrgast wollte in einer Regionalbahn nach Hause fahren. Nachdem der Betrunkene in einen Abfallbehälter urinierte, beschwerten sich andere Fahrgäste beim Zugbegleiter. Dieser versuchte den mittlerweile schlafenden Kläger zu wecken, was ihm jedoch nicht gelang. An einer weiteren Haltestelle versuchte der Betrunkene auf der dem Bahnsteig abgewandten Seite durch die gesicherte Waggontür auszusteigen. Der Zugbegleiter wies den Betrunkenen zurecht. Dier Betrunkene ging daraufhin wortlos in das Großraumabteil zurück. Kurz darauf, als der Zug anfuhr, kletterte der Betrunkene durch ein Abteilfenster und stürzte noch im Bereich des Haltepunktes herab. Von diesem Vorfall bemerkte der Zugbegleiter nichts.

Der Betrunkene erlitt erhebliche Verletzungen. Sein rechtes Bein wurde abgetrennt und es kam zu weiteren Frakturen. Allerdings konnte nicht geklärt werden, ob und welche dieser Verletzungen durch die Regionalbahn oder durch einen nachfolgenden Güterzug verursacht wurden. Der nun klagende Verletzte ist der Ansicht, die Beklagte sei ihm aufgrund § 1 Abs. 1 HaftpflG schadensersatzpflichtig. Der Zugbegleiter habe zudem vor dem Unfall seine Aufsichtspflicht verletzt, da er den erkennbar alkoholisierten Kläger nach dessen vergeblichem Ausstiegsversuch durch die falsche Tür nicht mehr hätte allein lassen dürfen. Bei Einhaltung der Aufsichtspflicht wäre es zu dem Hinausklettern aus dem Fenster nicht gekommen. Dafür verlangt er jetzt Schadensersatz und Schmerzensgeld von dem Bahnbetreiber.

Die Entscheidung

Aus dem Urteil: [...] Die Beklagte hat keine vertragliche Nebenpflicht dadurch verletzt, dass der von ihr eingesetzte Zugbegleiter als ihr Erfüllungsgehilfe das Hinausklettern des Klägers aus dem Fenster nicht verhinderte. Vor allem bestand auch unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des vorliegenden Falles keine Aufsichtspflicht des Zugbegleiters gegenüber dem Kläger [...]

[...] Selbst wenn man eine gesteigerte Aufsichtspflicht bejahen würde, hätte der Zugbegleiter nicht schuldhaft hiergegen verstoßen. Das Verhalten des Klägers ließ nicht den vorwerfbaren Schluss zu, der Zugbegleiter hätte vorsehen können und müssen, dass der Kläger alsbald versuchen würde, den Zug über das Fenster zu verlassen [...]

Dem Kläger steht  kein Schadensersatz zu

"Abgesehen davon, dass das Ein-und Aussteigen nach der Eisenbahn-Betriebsordnung nur an den dazu bestimmten Stellen gestattet ist, stellt das Herausklettern aus dem Fenster eines anfahrenden Zuges ein grob verkehrswidriges Verhalten dar, das jegliche Gefährdungshaftung entfallen lässt", erklärt Rechtsanwältin Dr. Sonja Tiedtke von der Deutschen Anwaltshotline. Der Zugbegleiter aber hätte weder voraussehen können noch müssen, dass der Betrunkene alsbald versuchen würde, den Zug durch das Fenster zu verlassen.

Gericht:
Oberlandesgericht Nürnberg, Urteil vom 30.12.2011 - 14 U 852/10     

Redaktion Rechtsindex

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