Wird das Feststellungsinteresse als Schutzzweck des § 142 StGB durch eine Weiterfahrt nur geringfügig beeinträchtigt, kann das Halteverbot auf der Autobahn Vorrang vor dem aus § 34 Abs. 1 Nr. 1 StVO und § 142 StGB folgende Halte- und Wartegebot haben.

Der Sachverhalt

Im verhandelten Fall des LG Gießen verursachte ein LKW-Fahrer einen Unfall auf der Autobahn. Andere Verkehrsteilnehmer waren an dem Unfall nicht beteiligt und die Haftungslage war eindeutig. Nach einem Verkehrsunfall gilt das Halte- und Wartegebot des § 34 Abs. 1 Nr. 1 StVO und des § 142 StGB (Unerlaubtes Entfernen vom Unfallort).

Andererseits besteht aber auch das Verbot des § 18 Abs. 8 StVO, wonach es verboten ist, auf der Autobahn und auf dem Seitenstreifen zu halten. Der Fahrer blieb nicht an Ort und Stelle, sondern fuhr auf einen 14km entfernten Rastplatz. Dort wurde der LKW-Fahrer von der Polizei angetroffen. Gegenüber der Polizei gab er spontan an, es sei ihm zu unsicher gewesen, auf dem Seitenstreifen anzuhalten, weil er dadurch andere Verkehrsteilnehmer gefährden würde. Der nächste Parklatz sei gesperrt gewesen, weshalb er bis zum nächsten Rastplatz weitergefahren sei. Der Staatsanwalt sah einen dringenden Tatverdacht des unerlaubten Entfernens vom Unfallort (§ 142 StGB).

Aus der Entscheidung des Landgericht Gießen (Az. 7 Qs 192/13)

Ein dringender Tatverdacht des unerlaubten Entfernens vom Unfallort (§ 142 StGB) besteht nicht. Der Beschuldigte hat sich zwar tatbestandsmäßig vom Unfallort entfernt, indem er nach dem Unfallereignis auf der Autobahn weiterfuhr und erst auf dem 14 Kilometer entfernten Rastplatz anhielt. Eine Strafbarkeit gemäß § 142 Abs. 1 StGB scheidet jedoch aus, weil der Beschuldigte sich im vorliegenden Einzelfall berechtigt von der Unfallstelle entfernte und deshalb nicht die Wartezeit des § 142 Abs. 1 Nr. 2 StGB einhalten musste. Denn er war aufgrund einer rechtfertigenden Pflichtenkollision zur Weiterfahrt berechtigt.

Welches der Gebote bei einem Unfall auf der Autobahn den Vorrang hat, kann nur im Einzelfall entschieden werden. Das Verbot des § 18 Abs. 8 StVO (Halten auf Autobahnen) kann in den Fällen vorgehen, in denen das Feststellungsinteresse als Schutzzweck des § 142 StGB durch eine Weiterfahrt nur geringfügig beeinträchtigt wird (vgl. Mitsch, NZV 2010, 225, 228; Fischer, StGB, 60. Aufl., § 142 Rdnr. 46).

Vorliegend war kein anderer Verkehrsteilnehmer an dem Unfall beteiligt und die Haftungslage war eindeutig. Durch ein Verbleiben an der Unfallstelle hätte eine weitere Aufklärung nicht erfolgen können. Auf der anderen Seite war die potentielle Gefährlichkeit des auf der Autobahn - wenn auch auf einem Seitenstreifen - stehenden Lkw für den nachfolgenden Verkehr zu berücksichtigen. Danach war dem Gebot der Weiterfahrt der Vorrang zu geben.

Feststellungspflichten nach § 142 Abs. 3 StGB

Der Beschuldigte hat seine in § 142 Abs. 3 StGB konkretisierten Feststellungspflichten erfüllt, indem er auf dem Rastplatz gegenüber den Polizeibeamten seine Unfallbeteiligung einräumte. Dies geschah auch unverzüglich im Sinne des § 142 Abs. 2 StGB.

Unverzüglichkeit bedeutet nicht sofortiges Handeln

Der Begriff der Unverzüglichkeit bedeutet nicht sofortiges Handeln oder den schnellstmöglichen Weg (vgl. Geppert in: Leipziger Kommentar, StGB, 12. Aufl., § 142 Rdnr. 154). Die am Schutzzweck des § 142 StGB auszurichtende Länge der Handlungsfrist bemisst sich nach Art und Zeit des Unfalls, der Schadenshöhe sowie der Aufklärungsbedürftigkeit der zivilrechtlichen Verantwortlichkeit (vgl. Cramer/Sternberg-Lieben in: Schönke/Schröder, StGB, 28. Aufl., § 142 Rdnr. 65). Dabei ist zudem die im § 142 Abs. 3 StGB normierte Wahlmöglichkeit für die Mitteilung zu berücksichtigen.

Nicht mehr unverzüglich wäre es gewesen, hätte der Beschuldigte die Angaben nicht mehr am selben Abend gemacht. Dass der Beschuldigte nicht sofort nach Erreichen des Rastplatzes die Polizei gerufen hat, ist unschädlich. In Fällen der nachträglichen Feststellungspflicht ist das Delikt nämlich erst vollendet, wenn der Zeitpunkt verstrichen ist, in dem die Meldung noch rechtzeitig hätte erfolgen können.

Die Länge der Handlungsfrist des § 142 Abs. 2 Nr. 2 StGB bemisst sich nach Art und Zeit des Unfalls, der Schadenshöhe sowie der Aufklärungsbedürftigkeit der zivilrechtlichen Verantwortlichkeit. Durch eine Verzögerung innerhalb des zur Verfügung stehenden Zeitraums wird der Tatbestand des § 142 StGB selbst dann nicht verwirklicht, wenn der Täter nicht die Absicht hatte, nachträgliche Feststellungen zu ermöglichen.

Themenindex:
Unfallflucht, Fahrerflucht, Unerlaubtes Entfernen vom Unfallort

Rechtsgrundlagen:
§ 142 Abs 2 Nr 2 StGB, § 18 Abs 8 StVO, § 34 Abs 1 Nr 1 StVO

Gericht:
Landgericht Gießen, Beschluss vom 29.11.2013 - 7 Qs 192/13

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