Ein vom Vater schwer sexuell missbrauchter Junge kann ein erhebliches Schmerzensgeld beanspruchen und seinen zivilrechtlichen Anspruch mithilfe der vom Strafrichter getroffenen tatsächlichen Feststellungen zum Tatgeschehen begründen.

Das kann es nach der Beschlussfassung des 9. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Hamm rechtfertigen, dem zivilrechtlich beklagten Vater Prozesskostenhilfe zur Rechtsverteidigung gegen die Schmerzensgeldforderung des missbrauchten Kindes weitgehend zu versagen.

Der Sachverhalt

Der heute 21 Jahre alte, im Ruhrgebiet lebende Kläger verlangt von seinem beklagten, heute 54 Jahre alten, inhaftierten Vater ein Schmerzensgeld in Höhe von 100.000 Euro. Dieses begründet er mit Taten schweren sexuellen Missbrauchs aus den Jahren 1999 bis 2005, die Gegenstand eines vor dem Landgericht Bochum gegen den Beklagten geführten Strafverfahrens waren.

Vom Landgericht Bochum wurde der beklagte Vater wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in weit über 100 Fällen, begangen zum Nachteil des Klägers und seines Bruders, zu einer Freiheitsstrafe von 9 Jahren verurteilt. Das Urteil ist nach seiner Bestätigung durch den Bundesgerichtshof im Jahre 2011 rechtskräftig. Der zivilrechtlichen Schmerzensgeldforderung des Klägers ist der Beklagte entgegengetreten, indem er die Straftaten und für den Kläger nachteilige gesundheitliche Folgen bestreitet.

Die Entscheidung des Oberlandesgerichts Hamm

Der 9. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Hamm hat es abgelehnt, dem beklagten Vater Prozesskostenhilfe für seine Rechtsverteidigung gegen einen Schmerzensgeldanspruch in Höhe von 65.000 Euro zu bewilligen. Die insoweit vom Beklagten beabsichtigte Rechtsverteidigung sei nicht erfolgversprechend.

Ein Zivilgericht kann sich zum Zweck seiner eigenen Überzeugungsbildung, ob sich ein bestimmtes Geschehen zugetragen hat, auf ein dazu ergangenes Strafurteil stützen. Dem steht nicht entgegen, dass die in einem strafrichterlichen Urteil enthaltenen Feststellungen von Tatsachen für die zu derselben Frage erkennenden Zivilgerichte grundsätzlich nicht bindend sind. Die tatsächlichen Feststellungen in einem Strafurteil können aber im Rahmen der eigenen freien Beweiswürdigung und der Überzeugungsbildung des Zivilrichters im Sinne von § 286 Abs. 1 ZPO Berücksichtigung finden, wobei das Urteil, wenn eine Partei sich - wie hier der Kläger - zu Beweiszwecken darauf beruft, im Wege des Urkundsbeweises gemäß §§ 415, 417 ZPO zu verwerten ist. Allerdings darf der Zivilrichter die vom Strafgericht getroffenen Feststellungen nicht ungeprüft übernehmen; er hat vielmehr die in der Beweisurkunde dargelegten Feststellungen einer eigenen kritischen Prüfung zu unterziehen (OLG Zweibrücken, NJW-RR 2011, 496; OLG München, Beschluss v. 21.09.2011 - 7 U 2719/11; Senat, Beschluss v. 03.05.2012 - 9 U 182/11; Beschluss v. 07.09.2012 – 9 W 4/12; Beschluss v. 22.02.2013 – 9 U 206/12).

Ausgehend von diesen Grundsätzen bestünden im vorliegenden Fall keine durchgreifenden Zweifel daran, dass der Beklagte die ihm zur Last gelegten Straftaten zum Nachteil des Klägers begangen habe. Der aufgrund einer umfassenden und differenzierten Beweiswürdigung im Strafurteil festgestellte Sachverhalt werde vom Beklagten nicht hinreichend bestritten.

Anzahl und Schwere der im Strafurteil festgestellten Missbrauchstaten rechtfertigten bereits ein Schmerzensgeld in der vom Senat zugrunde gelegten Höhe. Aufzuklären sei allerdings, ob und ggfls. in welchem Umfang vom Kläger als Tatfolgen behauptete psychische Auffälligkeiten auf die Missbrauchstaten zurückzuführen seien, weil das Strafurteil hierzu keine ausreichenden tatsächlichen Feststellungen enthalte. Deswegen sei dem Beklagten für eine Rechtverteidigung gegen eine über den Betrag von 65.000 Euro hinausgehende Schmerzensgeldforderung Prozesskostenhilfe zu bewilligen.

Gericht:
Oberlandesgericht Hamm, Beschluss vom 27.05.2015 - 9 W 68/14

OLG Hamm, PM
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