Der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin hat festgestellt, dass das angegriffene Gesetz ordnungsgemäß zustande gekommen und die Ermächtigung zur Anfertigung von sogenannten Übersichtsaufnahmen durch die Polizei mit der Verfassung von Berlin (VvB) vereinbar ist.

Der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin hat sein Urteil (Az. VerfGH 129/13) in dem von 62 Abgeordneten der Oppositionsfraktionen im Abgeordnetenhaus angestrengten Normenkontrollverfahren gegen die Änderung des Versammlungsrechts in Berlin verkündet.

Der Sachverhalt

Die Antragsteller hatten in der mündlichen Verhandlung vor dem Verfassungsgerichtshof am 19. Februar 2014 geltend gemacht, das Gesetz über Aufnahmen und Aufzeichnungen von Bild und Ton bei Versammlungen unter freiem Himmel vom 23. April 2013 (Berliner Versammlungsgesetz) sei insgesamt nichtig. Dem Land Berlin fehle bereits die Gesetzgebungskompetenz. Außerdem sei die nach dem Gesetz (§ 1 Abs. 3) zulässige Anfertigung von sogenannten Übersichtsaufnahmen durch die Polizei unbestimmt und unverhältnismäßig. Diese Regelung verstoße gegen das Grundrecht der Versammlungsfreiheit aus Art. 26 Verfassung von Berlin (VvB).

Nicht Gegenstand des Verfahrens waren die aus dem Bundesrecht übernommenen Regelungen zu individualisierten Aufnahmen und Aufzeichnungen zur Abwehr erheblicher Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung (nach § 1 Abs. 1 und 2 des Gesetzes).

Die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs (Az. VerfGH 129/13)

Der Verfassungsgerichtshof ist den Einwänden der Antragsteller nicht gefolgt. Er hat ausgeführt: Das Abgeordnetenhaus von Berlin musste das nach der Föderalismusreform 2006 noch fortgeltende Versammlungsgesetz des Bundes nicht insgesamt ersetzen. Es war vielmehr (nach Art. 125 a Abs. 1 Satz 2 Grundgesetz) zulässig, auch nur einen abgrenzbaren Teilbereich des seither in die Kompetenz der Länder übergegangenen Versammlungsrechts - nämlich Aufnahmen und Aufzeichnungen in Bild und Ton bei Versammlungen unter freiem Himmel - durch Landesgesetz neu zu regeln. Auch verstößt die Anfertigung von Übersichtsaufnahmen durch die Polizei (nach § 1 Abs. 3 des Gesetzes) nicht gegen Grundrechte der Verfassung von Berlin. Solche Aufnahmen greifen zwar in die Versammlungsfreiheit ein und können dazu führen, dass sich Einzelne davon abhalten lassen, an Demonstrationen teilzunehmen.

Dieser "Einschüchterungseffekt" beeinträchtigt auch das Gemeinwohl. Denn die kollektive öffentliche Meinungskundgabe in Versammlungen ist eine elementare Funktionsbedingung des demokratischen und freiheitlichen Rechtsstaats.

Die Ermächtigung zu Übersichtsaufnahmen ist aber hinreichend bestimmt und bei einer Gesamtabwägung auch verhältnismäßig. Der Eingriff in die Versammlungsfreiheit ist dadurch wesentlich gemildert, dass Übersichtsaufnahmen offen und für jedermann wahrnehmbar erfolgen müssen und nicht aufgezeichnet werden dürfen. Zur Gewährleistung der Offenheit schreibt das Gesetz die unverzügliche Unterrichtung der Versammlungsleitung vor. Zur Wahrnehmbarkeit trägt ferner die bisherige Praxis der Berliner Polizei, für die Anfertigung von Übersichtsaufnahmen eigenes Personal und eine eigene Technik einzusetzen, maßgeblich bei. Außerdem stellen regelmäßige Schulungen der eingesetzten Beamten eine wesentliche Organisationsmaßnahme dar. Die kontinuierliche Überprüfung und Weiterentwicklung aller organisatorischen Maßnahmen und technischen Möglichkeiten zur grundrechtsschonenden Anwendung der gesetzlichen Ermächtigung ist in erster Linie Aufgabe der vollziehenden Gewalt, die dabei der Kontrolle durch die Fachgerichte unterliegt. Im Übrigen trifft den Gesetzgeber in Bezug hierauf und in Bezug auf das ganze Gesetz eine Beobachtungs- und Überprüfungsobliegenheit sowie ggf. eine Nachbesserungspflicht.

Übersichtsaufnahmen sind schließlich nur zulässig, wenn sie wegen der Größe oder der Unübersichtlichkeit der Versammlung im konkreten Einzelfall zur Lenkung und Leitung des Polizeieinsatzes erforderlich sind. Hierzu hat der Verfassungsgerichtshof besonders darauf hingewiesen, dass Übersichtsaufnahmen keine stets zulässige Maßnahme darstellen, sondern zumindest eine abstrakte Gefahrenprognose erfordern. Daraus müssen sich Anhaltspunkte für ihre Notwendigkeit ergeben. Andere gleich geeignete mildere Mittel als die Anfertigung offener Übersichtsaufnahmen ohne Aufzeichnung sind nicht erkennbar. Insoweit ist es nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber die mündliche Übermittlung von Lagebildern durch Beamte vor Ort für weniger geeignet gehalten hat. Die Entscheidung ist mit 8:1 Stimmen ergangen. Ein Richter des Verfassungsgerichtshofes hat dem Urteil eine abweichende Meinung angefügt.

Gericht:
Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin, Urteil vom 11.04.2014 - VerfGH 129/13

VerfGH Berlin, PM Nr. 9/2014
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