Das Bundesverfassungsgericht hat die Verfassungsbeschwerde eines Maßregelvollzugspatienten zurückgewiesen, der sich gegen die Anordnung und Durchführung einer besonderen Sicherungsmaßnahme (Einschluss) durch Bedienstete einer privatisierten Maßregelvollzugseinrichtung wandte.

Der Sachverhalt

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts verhandelte über die Verfassungsbeschwerde eines Maßregelvollzugspatienten, der sich gegen die Anordnung und zwangsweise Durchführung einer besonderen Sicherungsmaßnahme (Einschluss) durch Bedienstete einer mit der Durchführung des Maßregelvollzugs beliehenen Gesellschaft privaten Rechts wendet. Die Verfassungsbeschwerde wirft die Frage auf, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen bei der Anwendung von Zwangsmaßnahmen im Maßregelvollzug der Einsatz von Bediensteten beliehener Privater zulässig ist.

Die Maßregelvollzugseinrichtung, in der der Beschwerdeführer untergebracht ist, wurde im Jahr 2007 auf der Grundlage des § 2 Sätze 3 bis 6 des hessischen Maßregelvollzugsgesetzes in eine gemeinnützige Gesellschaft mit beschränkter Haftung umgewandelt, deren Anteile teils beim Landeswohlfahrtsverband, teils bei einer weiteren GmbH liegen, die sich ihrerseits zu 100 % in der Hand des Landeswohlfahrtsverbandes befindet. Das Land Hessen hat der gGmbH durch Beleihungsvertrag die Aufgabe übertragen, die als Maßregeln der Besserung und Sicherung angeordneten Unterbringungen gemäß § 61 Nr. 1 und 2 StGB im eigenen Namen für das Land Hessen zu vollziehen und ihr die dazu erforderlichen hoheitlichen Befugnisse, einschließlich der Befugnis zu den nach dem Hessischen Maßregelvollzugsgesetz zulässigen Grundrechtseingriffen, verliehen.

Der Beschwerdeführer wurde nach einem aggressiven Ausbruch von Mitarbeitern der gGmbH ohne vorherige Information der Klinikleitung gewaltsam in Einschluss genommen. Er beantragte vor den Fachgerichten erfolglos die Feststellung, dass die Maßnahme rechtswidrig gewesen sei, weil nur Beamte einen solchen Grundrechtseingriff anordnen und durchführen dürften.

Mit der Verfassungsbeschwerde rügt er unter anderem, der Eingriff sei unter Verstoß gegen das Demokratieprinzip sowie gegen Art. 33 Abs. 4 GG erfolgt, wonach die Ausübung hoheitsrechtlicher Befugnisse als ständige Aufgabe in der Regel Angehörigen des öffentlichen Dienstes, die in einem öffentlich-rechtlichen Dienst- und Treueverhältnis stehen - das heißt: Beamten -, zu übertragen ist.

Die Entscheidung

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat entschieden, dass die Eingriffsgrundlage des § 5 Abs. 3 des hessischen Maßregelvollzugsgesetzes (HessMVollzG), der Bedienstete auch privatisierter Maßregelvollzugseinrichtungen ermächtigt, bei Gefahr im Verzug vorläufig besondere Sicherungsmaßnahmen gegen einen im Maßregelvollzug Untergebrachten anzuordnen, mit dem Grundgesetz vereinbar ist.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde:

Die gegen den Beschwerdeführer ergriffene Sicherungsmaßnahme beruht auf einer verfassungskonformen Ermächtigungsgrundlage.

1. Die Vorschrift des § 5 Abs. 3 HessMVollzG verstößt, indem sie auch Bediensteten privater Träger von Maßregelvollzugseinrichtungen Vollzugsaufgaben überträgt, nicht gegen den Grundsatz des Funktionsvorbehalts (Art. 33 Abs. 4 GG), nach dem die Ausübung hoheitsrechtlicher Befugnisse als ständige Aufgabe „in der Regel“ Angehörigen des öffentlichen Dienstes, die in einem öffentlich-rechtlichen Dienst- und Treueverhältnis stehen, d. h. Beamten, vorbehalten ist.

Zwar gilt Art. 33 Abs. 4 GG auch für den Fall der Übertragung hoheitlicher Aufgaben auf Private. Die in § 5 Abs. 3 HessMVollzG vorgesehene Befugnis zur vorläufigen Anordnung besonderer Sicherungsmaßnahmen erweist sich jedoch als zulässige Ausnahme vom Grundsatz des Funktionsvorbehalts.

Abweichungen von diesem Grundsatz müssen durch einen spezifischen, dem Sinn der Ausnahmemöglichkeit entsprechenden Ausnahmegrund gerechtfertigt sein. Sie können nicht allein mit dem fiskalischen Gesichtspunkt begründet werden, dass eine Aufgabenwahrnehmung durch Nichtbeamte den öffentlichen Haushalt entlasten würde. Jedoch kann berücksichtigt werden, ob eine Tätigkeit Besonderheiten aufweist, deretwegen Kosten und Sicherungsnutzen des Einsatzes von Berufsbeamten hier in einem anderen - deutlich ungünstigeren - als dem nach Art. 33 Abs. 4 GG im Regelfall vorauszusetzenden Verhältnis stehen.

Hieran gemessen kann ein Verstoß gegen Art. 33 Abs. 4 GG nicht festgestellt werden. Die gewählte Privatisierungslösung zielt auf die Erhaltung des organisatorischen Verbundes der Maßregelvollzugseinrichtungen und der sonstigen bei den jeweiligen Trägern zusammengefassten psychiatrischen Einrichtungen. Die Erhaltung dieses Verbundes soll durch Synergieeffekte sowie verbesserte Personalgewinnungs-, Ausbildungs- und Fortbildungsmöglichkeiten gerade der Qualität des Maßregelvollzuges zugute kommen. Die Einschätzung, dass diese Vorzüge der Einbeziehung des Maßregelvollzuges in den privatisierten Verbund nicht mit spürbaren Nachteilen im Hinblick auf die - besonders im Kernbereich hoheitlicher Staatsaufgaben unabdingbare - Sicherung qualifizierter und gesetzestreuer Aufgabenwahrnehmung erkauft worden sind, ist angesichts vorhandener Erfahrungen mit der Inanspruchnahme der Ausnahmemöglichkeit des Art. 33 Abs. 4 GG im Maßregelvollzug und angesichts der institutionellen Ausgestaltung der erfolgten Privatisierung vom Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers und der für die Festlegung der vertraglichen Rahmenbedingungen verantwortlichen Regierung gedeckt.

Zum einen ist die Privatisierung der hessischen Maßregelvollzugseinrichtungen eine rein formelle. Die privaten Maßregelvollzugskliniken bleiben vollständig in der Hand eines öffentlichen Trägers, des Landeswohlfahrtsverbandes, und sind damit von erwerbswirtschaftlichen Motiven und Zwängen freigestellt. Eine Auslieferung der Vollzugsaufgabe an Kräfte und Interessen des privatwirtschaftlichen Wettbewerbs, die den gesetzlichen Vollzugszielen und der Wahrung der Rechte der Untergebrachten systemisch zuwiderlaufen können, findet nicht statt. Die Verpflichtung der öffentlichen Hand, die aufgabengemäße Ausstattung der Maßregelvollzugseinrichtungen zu gewährleisten, wird in keiner Weise berührt. Die personellen und sachlichen Ressourcen, von denen die Möglichkeit eines rechts- und insbesondere grundrechtskonformen Vollzuges wesentlich abhängt, sind den privatisierten Trägern der Maßregelvollzugseinrichtungen in gleicher Weise gewährleistet, wie das bei einer formell öffentlichen Einrichtung der Fall wäre. Für den bei Einsatz von Nichtbeamten im Maßregelvollzug nicht auszuschließenden Fall eines Streiks kann und muss die gebotene Vermeidung unverhältnismäßiger Beeinträchtigungen Dritter durch Notdienste sichergestellt werden. Ferner sind die den Maßregelvollzug betreffenden Rechtspflichten der privaten Einrichtungen und ihrer Bediensteten durch weitreichende Steuerungsbefugnisse des öffentlichen Aufgabenträgers in einer den Verhältnissen bei formell öffentlich-rechtlicher Organisation gleichwertigen Weise gesichert.

2. § 5 Abs. 3 HessMVollzG verstößt nicht gegen die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die demokratische Legitimation hoheitlichen Handelns.

Diese muss in personeller und sachlich-inhaltlicher Hinsicht ein insgesamt ausreichendes Niveau erlangen. Die Beleihung Privater darf nicht zu einer Flucht aus der staatlichen Verantwortung führen. Die Einschätzung des Gesetzgebers, dass dieser Verantwortung unter den gesetzten Rahmenbedingungen ausreichend Rechnung getragen ist, muss sich in der Realität bewahrheiten. Die staatliche Gewährleistungsverantwortung für die ordnungsgemäße Aufgabenerfüllung schließt daher, auch für das Parlament, eine entsprechende Beobachtungspflicht ein. Dies erfordert unter anderem, dass die Möglichkeiten parlamentarischer Kontrolle der Aufgabenwahrnehmung unbeeinträchtigt bleiben.

Das danach erforderliche Legitimationsniveau ist für die im hessischen Maßregelvollzug zu treffenden grundrechtseingreifenden Entscheidungen ausreichend gewährleistet. Der Leiter der jeweiligen Einrichtung und die weiteren Ärzte mit Leitungsfunktion sind dadurch personell legitimiert, dass sie als Beschäftigte des Landeswohlfahrtsverbandes von einer öffentlichen Körperschaft bestellt werden. Die Anstellung der Bediensteten der privaten Maßregelvollzugseinrichtung steht dadurch in einem Legitimationszusammenhang, dass dem seinerseits personell legitimierten Leiter nach dem Beleihungsvertrag für die Stellenbesetzung ein Vorschlagsrecht zusteht und die Geschäftsführung der privaten Einrichtung an seine fachliche Beurteilung gebunden ist.

Sachlich-inhaltlich ist die Aufgabenwahrnehmung durch die privatisierten Einrichtungsträger und die dort tätigen Personen durch deren Bindung an das Gesetz in Verbindung mit umfassenden Weisungsbefugnissen der verantwortlichen öffentlichen Träger - bei gleichzeitigem Ausschluss von Weisungen der Geschäftsführung des privaten Trägers im Zuständigkeitsbereich des Leiters der Einrichtung - legitimiert. Die vorgesehene Fachaufsicht ist nicht deshalb unzureichend, weil das Maßregelvollzugsgesetz die für jede wirksame Aufsicht erforderlichen Informationsgewinnungs- und Durchsetzungsmittel nicht ausdrücklich regelt. Soweit der Beliehene durch ausdrückliche gesetzliche Regelung einer Aufsicht des verantwortlichen öffentlichen Trägers unterworfen ist und die Aufsichtsmittel nicht näher spezifiziert sind, kann eine solche gesetzliche Regelung verfassungskonform nur dahin ausgelegt werden, dass die Aufsichtsbefugnis alle zur effektiven Wahrnehmung der staatlichen Gewährleistungsverantwortung erforderlichen Informationsbeschaffungs- und Durchsetzungsbefugnisse einschließt.

Die Aufgabenwahrnehmung der zuständigen Aufsichtsbehörden, die zu effektiver Aufsicht über die beliehenen Privaten nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet sind, steht ihrerseits in dem notwendigen demokratischen Legitimationszusammenhang. Dieser ist weder durch eine Geheimhaltung vertraglicher Ausgestaltungen der Aufgabenwahrnehmung noch durch sonstige Beschränkungen der parlamentarischen Kontrollmöglichkeiten unterbrochen oder beeinträchtigt.

Weiter ist zu berücksichtigen, dass die Bediensteten der privaten Maßregelvollzugsklinik nach § 2 Satz 6 HessMVollzG grundrechtseingreifende Tätigkeiten nur insoweit ausführen dürfen, als diese durch Weisungen der Leitungspersonen so programmiert sind, dass keine Ermessensspielräume verbleiben oder im Einzelfall verbleibende Ermessensspielräume durch Angehörige der Leitungsebene ausgefüllt werden. Soweit § 5 Abs. 3 HessMVollzG Bedienstete der privaten Einrichtung zu vorläufigen Sicherungsmaßnahmen ermächtigt, verbleibt allenfalls ein schmaler Ermessensbereich und unterliegt die Ausfüllung des Beurteilungsspielraums durch die gesetzliche Pflicht der Bediensteten zur unverzüglichen Unterrichtung des Einrichtungsleiters einer präventiv wirksamen Rückkoppelung an dessen Weisungsgewalt.

Gericht:
Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 18. Januar 2012 - 2 BvR 133/10

Bundesverfassungsgericht - Pressestelle
Pressemitteilung Nr. 2/2012 vom 18. Januar 2012
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